Texte & Geschichten

Virginia Satir

Wie ich dir begegnen möchte

Ich möchte Dich lieben, ohne Dich einzuengen.

Ich möchte Dich wertschätzen, ohne Dich zu bewerten.

Ich möchte Dich ernst nehmen, ohne Dich auf etwas festzulegen.

Ich möchte zu Dir kommen, ohne mich Dir aufzudrängen.

Ich möchte Dich einladen, ohne Forderungen an Dich zu stellen.

Ich möchte Dir etwas schenken, ohne Erwartungen daran zu knüpfen.

Ich möchte von Dir Abschied nehmen, ohne Wesentliches versäumt zu haben.

Ich möchte Dir meine Gefühle mitteilen, ohne Dich für sie verantwortlich zu machen.

Ich möchte Dich informieren, ohne Dich zu belehren.

Ich möchte Dir helfen, ohne Dich zu beleidigen.

Ich möchte mich um Dich kümmern, ohne Dich ändern zu wollen.

Ich möchte mich an Dir freuen - so wie Du bist.

Wenn ich von Dir das Gleiche bekommen kann, dann können wir uns wirklich begegnen und uns gegenseitig bereichern.

Khalil Gibran - Der Prophet

Von der Ehe

Dann sprach Almitra abermals und sagte: Uns was ist mit der Ehe, Meister?

Und er antwortete und sprach: Ihr wurdet zusammen geboren, und ihr werdet auf immer zusammen sein.

Ihr werdet zusammen sein, wenn die weißen Flügel des Todes eure Tage scheiden. 

Ja, ihr werdet selbst im stummen Gedanken Gottes zusammen sein.

Aber lasst Raum zwischen euch. Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen.

Liebt einandern, aber macht die Liebe nicht zur Fessel: Lasst sie wie ein wogendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen sein.

Füllt einander den Becher, aber trinkt nicht aus einem Becher. Gebt einander von eurem Brot, aber esst nicht vom selben Laib. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber lasst jeden von euch allein sein, so wie die Saiten einer Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern. Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Obhut. Denn nur die Hand des Lebens kann eure Herzen umfassen. Und steht zusammen, doch nicht zu nah: Denn die Säulen des Tempels stehen für sich, und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten des anderen.

Anne Morrow Lindbergh

Muscheln in meiner Hand

Wenn man jemanden liebt, so liebt man ihn nicht die ganze Zeit,

nicht Stunde um Stunde auf die gleiche Weise.

Das ist unmöglich!

Es wäre sogar eine Lüge, wollte man diesen Eindruck erwecken, und doch ist es genau das, was die meisten fordern. 

Wir haben so wenig Vertrauen in die Gezeiten des Lebens, der Liebe und der Beziehungen.

Wir jubeln der steigenden Flut entgegen und wehren uns erschrocken gegen die Ebbe.

Wir haben Angst, die Flut würde nie zurückkehren.

Wir verlangen Beständigkeit, Haltbarkeit und Fortdauer.

Und die einzig mögliche Fortdauer des Lebens, wie der Liebe liegt im Wachstum; im täglichen Auf und Ab - in der Freiheit:

Einer Freiheit im Sinne von Tänzern, die sich kaum berühren und doch Partner in der gleichen Bewegung sind.